Beatriz Padovan entwickelte vor 40 Jahren, nach ihrem Studium zur Sprachtherapeutin, ihre Methode der Neurofunktionellen Reorganisation in Brasilien.
Vor ihrem Studium war sie Grundschullehrerin an der Waldorfschule in São Paulo, wo sie auch Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen unterrichtete. Gleichzeitig konnte sie beobachten, dass diese Kinder nicht nur Lernschwierigkeiten zeigten, sondern auch in ihrer Bewegungskoordination ungeschickter waren als Kinder ohne Auffälligkeiten im Schriftspracherwerb. Auf der Suche nach geeigneten Fördermöglichkeiten stieß sie auf Methoden der Sprachtherapie und nahm 1960 selbst ein Studium zur Sprachtherapeutin auf, um Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung besser fördern zu können.
Während ihres letzten Studienjahrs nahm sie die Einladung des Arztes Dr. Interlandi an die Kieferorthopädischen Fakultät der USP (Universidade de São Paulo) in São Paulo an. Sein Ziel war, zusammen mit einer Sprachtherapeutin, Behandlungsmethoden für myofunktionelle Störungen zu entwickeln. Den Bereich der myofunktionellen Therapie hatte er in den USA kennen gelernt und er wollte ihn in Brasilien an der Universität von São Paulo etablieren. An der Kieferorthopädischen Fakultät arbeitete Beatriz Padovan sechs Jahre lang. Dort entwickelte sie ihr Mundprogramm mit den Übungen zu den Mundfunktionen „Atmung, Saugen, Kauen und Schlucken“. Die Idee, mit Hilfe von Übungen zu den Mundfunktionen, komplexere Störungen, wie beispielsweise Artikulationsauffälligkeiten und myofunktionelle Störungen korrigieren zu können, basierte auf der Sichtweise Rudolf Steiners und Beobachtungen der natürlichen Entwicklung des Menschen. Beatriz Padovan befasste sich zu jener Zeit intensiv mit der Waldorf-Pädagogik und stieß auf den Vortrag „Gehen, Sprechen und Denken“ von Rudolf Steiner. Dieser Vortrag beschreibt, dass komplexe Fertigkeiten auf „basalen“ Fähigkeiten aufbauen und sich aus diesen entwickeln. Die sensomotorische Entwicklung stellt danach die wesentliche Grundlage für spätere Lernprozesse dar. Darin fand sie schließlich auch ihre eigenen Beobachtungen von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen während ihrer Unterrichtstätigkeit bestätigt. Diese Kinder hatten neben den Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb durchweg auch Auffälligkeiten in der Motorik gezeigt.
Zu dieser Zeit stieß sie ferner auf die Arbeiten des amerikanischen Neurochirurgen Temple Fay, der das von Beatriz Padovan in ihrer Therapiemethode angewandte Körperprogramm prägte. Er behandelte Patienten mit Hirnverletzungen in den 1950er Jahren und konnte zeigen, dass eine Rehabilitation von Verletzungen des Zentralnervensystems bis zu einem gewissen Maße möglich ist. Die Arbeitsgruppe um Temple Fay herum nutzte, je nach Läsionsort des Nervensystems, einzelne ausgewählte Bewegungsmuster der ontogenetischen Entwicklung (Entwicklung des einzelnen Individuums) für die Rehabilitation neurologischer Erkrankungen.
Beatriz Padovan erkannte in diesen Bewegungsmustern ein mögliches therapeutisches Potential für die Behandlung der Bewegungsauffälligkeiten ihrer Patienten. Mit der Idee Rudolf Steiners, dass grundlegende Fähigkeiten komplexere Fähigkeiten und Fertigkeiten vorbereiten, begann sie alle grundlegenden motorischen Bewegungsmuster, die ein Kind in seiner Entwicklung durchläuft, mit den Übungen ihres Mundprogramms zu kombinieren. Beatriz Padovan machte sich somit die Strategie der Natur als therapeutisches Werkzeug zunutze. Sie nutzt Übungen, die sich an natürliche Bewegungsmuster der physiologischen Entwicklung orientieren und wiederholt diese in einer festgelegten Reihenfolge in jeder Therapiestunde, um bestimmte Funktionen zum Reifen zu bringen und Störungen zu mindern oder zu beheben.
Suchte Beatriz Padovan zu Beginn ihrer Tätigkeit eine Behandlungsmethode für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen, so werden inzwischen, nach 40-jähriger Erfahrung mit der Padovan-Methode® Neurofunktionelle Reorganisation weit mehr Störungsbilder behandelt.
Die Padovan-Methode® wird heutzutage interdisziplinär von unterschiedlichen Berufsgruppen (z.B. von Sprach-, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen, u.a.) in verschiedenen Ländern Europas, in Nordafrika, Kanada, Indien und in Brasilien angewandt.
Die Entwicklung der Neurofunktionellen Reorganisation
Die Padovan-Methode® Neurofunktionelln Reorganisation ist eine ganzheitliche Therapiemethode. Verfolgen wir den Gedankengang der Sprachtherapeutin Beatriz Padovan, dann berücksichtigt die Therapie die physiologische Entwicklung des Menschen von Geburt bis ins hohe Alter. Die Entwicklung, ein natürlicher, dynamischer und komplexer Prozess, ist bedingt durch sein genetisches Potential und seine Umwelt. Das genetische Programm eines jeden Menschen kann nur dann zu seiner vollen Entfaltung kommen, wenn das Kind sowohl vor als auch nach der Geburt elterliche Geborgenheit und Zuneigung erfährt, in einer gesunden Umgebung aufwächst und ausreichende und dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechende Sinnes- und Bewegungserfahrungen machen kann.
Die von Frau Padovan vor 40 Jahren entwickelte Methode besteht aus dem bewussten Nachvollziehen einzelner Entwicklungsschritte. Sie erkannte die Bedeutung bestimmter Bewegungsmuster innerhalb des menschlichen Entwicklungsprozesses und nutzt diese in ihrer Methode als therapeutisches Werkzeug für die Behandlung und Rehabilitation unterschiedlicher Entwicklungsstörungen und erworbener Erkrankungen, die auf eine Störung und/oder Dysfunktion des Nervensystems zurückzuführen sind. Es gibt unterschiedliche Gründe (bspw. Syndrome, Genmutationen, Umwelteinflüsse, etc.), die dazu führen können, dass die Entwicklung in dem einen oder anderen Bereich nicht optimal verläuft. Erworbene Fähigkeiten und Funktionen können darüber hinaus durch bestimmte Ereignisse, wie bspw. durch einen Unfall, einen Schlaganfall oder neuromuskuläre degenerative Erkrankungen verloren gehen.
Durch gezielte Übungen können den Patienten physiologische Bewegungserfahrungen zu allen Muskelgruppen des Körpers angeboten werden, um ein effizienteres Körperschema auszubilden. Ziel der Therapie ist der Erwerb oder das Erlernen von neuen oder verlorenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, so dass Symptome einer entwicklungsbedingten oder erworbenen Störung gemindert oder überwunden werden können. Durch die Arbeit an allen Körper-, Bewegungs- und Sinnessystemen ist es möglich psycho-emotionale Prozesse ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Padovan-Methode® Neurofunktionelle Reorganisation steht auf vier Säulen, die Beatriz Padovan aufgrund ihrer ganzheitlichen Sichtweise in Hinblick auf die funktionellen und physiologischen Zusammenhänge zwischen allen Körpersystemen und –strukturen zusammenführte:
- das Konzept der „Neurologischen Organisation“ des amerikanischen Neurologen und Neurochirurgen Temple Fay (1895-1963)
- Aspekte der anthroposophischen Denkweise nach Rudolf Steiner (1861-1925)
- Beobachtungen der physiologischen und natürlichen menschlichen Entwicklung sowie der derzeitigen aktuellen Erkenntnisse innerhalb der Neurowissenschaften
- die von Beatriz Padovan speziell entwickelten Übungen zu den vier Mundfunktionen: Atmung, Saugen, Kauen, Schlucken